1884: Die Fabian Society und die Anfänge der englischen Sozialdemokratie

Am 4. Januar 1884 wurde in London die Fabian Society gegründet. Der elitäre Intellektuellen-Zirkel prägt die englische Linke bis heute. Die Fabians standen 1900 an der Wiege der Labour-Party. Alle sechs sozialdemokratischen Premierminister Großbritanniens waren Mitglieder der Gesellschaft.

Sozialistische Vordenker und Agitatoren: Sidney Webb (links), Bernard Shaw (Mitte) und Beatrice Webb (rechts), die führenden Köpfe der Fabian Society in ihren Anfangsjahren.

Sozialistische Vordenker und Agitatoren: Sidney Webb (links), Bernard Shaw (Mitte) und Beatrice Webb (rechts), die führenden Köpfe der Fabian Society in ihren Anfangsjahren (Foto von 1932).

1884 holten die deutschen Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen bereits fast zehn Prozent der Stimmen. In England steckte damals die Organisation der Linken noch in den Kinderschuhen. Daran konnte auch Karl Marx nichts ändern, der von 1849 bis zu seinem Tod 1883 hauptsächlich in London lebte. „England scheint der Fels, an dem die Revolutionswogen scheitern“, schrieb der Theoretiker des Klassenkampfes frustriert Ende 1848. Und das, obwohl hier „die Klassengegensätze sich zur ausgeprägtesten, schamlosesten Form fortgetrieben haben“.

Der Marxschen Diagnose stimmten viele fortschrittlich denkende Briten zwar zu. Dem viktorianischen England galt radikales Denken und Dogmatismus jedoch als geschmacklos, und der Marxismus erhielt nie nennenswerten Zulauf. So mussten die Angelsachsen ihre eigene Spielart des sozialistischen Denkens von Grund auf neu entwickeln, bevor daraus eine politische Bewegung werden konnte.

Genau dieses Anliegen führte am 4. Januar 1884 ein gutes Dutzend fortschrittlicher Intellektueller im Hause des jungen Anwalts Edward Pease in London zusammen. Ihr Ziel: „Der Neuaufbau der Gesellschaft im Einklang mit den höchsten moralischen Möglichkeiten.“ Sie benannten ihren Diskussionskreis „Fabian Society“, nach dem römischen Feldherrn Quintus Fabius Maximus, der im Krieg gegen Hannibal durch seine zögernde Taktik auffiel. „Man muss den richtigen Augenblick abwarten“, so heißt es in einem frühen Papier der Fabians, „wie Fabius, der höchst geduldig verfuhr, als er gegen Hannibal Krieg führte, obwohl viele sein Zaudern verurteilten. Doch wenn die Zeit kommt, muss man, wie Fabius es tat, hart zuschlagen, oder alles Warten bleibt vergebens und erfolglos.“

Agitatoren und Vordenker

Von Sozialismus war bei diesen ersten Treffen noch nicht die Rede – denn noch fehlten der Gesellschaft jene Köpfe, die ihren Aufstieg bis zum Zweiten Weltkrieg prägen sollten. Der erste von ihnen verewigte sich in einer Randnotiz zum Protokoll der Sitzung vom 16. Mai mit den Worten: „Dieses Treffen war denkwürdig aufgrund der ersten Teilnahme von Bernard Shaw.“ Drei Monate später trat der Schriftsteller den Fabians offiziell bei und wurde für Jahrzehnte ihr unangefochtenes Sprachrohr. Ohne den begabten Agitator Shaw wäre die Gesellschaft womöglich nur ein weiterer von ungezählten kleinen linken Debattierkreisen ohne öffentliche Wirkung geblieben.

Shaw lieferte noch im September 1884 ein „Manifest“, das die Fabians von einem philanthropischen auf einen sozialökonomischen Kurs führte. Die Fabians, so schrieb Shaw, glaubten, dass „unter den derzeitigen Rahmenbedingungen Reichtum nicht genossen werden kann, ohne schändlich zu handeln, und nicht aufgegeben werden kann, ohne im Elend zu leben.“ Er brachte die Fabians mit seinen leidenschaftlichen Überzeugungen auf den Weg – doch systematisches, diszipliniertes Denken war Shaw fremd.

Diesen Zug steuerte Sidney Webb bei, der Mitte 1885 zu den Fabians stieß. Fünf Jahre später führte er auch seine künftige Frau Beatrice in die Gesellschaft ein. Gemeinsam prägten die Webbs die Gesellschaft mehr als irgendjemand sonst. Beide waren scharf denkende Analytiker der sozialen Lage im Land. Sie formten die Fabian Society zu einem linken Think-Tank, in dem gesellschaftliche Probleme schonungslos diagnostiziert und Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Sidney Webb hatte, wie Bernard Shaw einmal schrieb, „keine Tränen für das Elend der Armen. Er sang keine Loblieder auf die kommenden guten Zeiten. Dazu hatte er keine Zeit. Er arbeitete an seinen Zahlen und veränderte das Gesicht der Erde.“

Marsch durch die Institutionen

Vom ersten Moment an gingen die Fabians an die Öffentlichkeit. Schon der erste „Fabian Tract“ zeigte deutlich den Weg: Er fragte „Warum sind die Massen arm?“ (1884). Sidney Webb lieferte mit seinen „Fakten für Sozialisten“ (1887) und „Fakten für Londoner“ (1889) nach und nach solide empirische Grundlagen für eine linke Politik. Programmatische Entwürfe folgten: Die Fabians agitierten für den Acht-Stunden-Tag, Reformen der Armen-Gesetzgebung, Verstaatlichung von Energie und öffentlichem Nahverkehr, ein neues Bildungswesen.

Das berühmte "Fabian Window" in der London School of Economics zeigt die Gründerväter der Hochschule, Sidney Webb und Bernard Shaw, beim Schmieden der Welt.

Das berühmte „Fabian Window“ in der London School of Economics zeigt die Gründerväter der Hochschule, Sidney Webb und Bernard Shaw, beim Schmieden der Welt. Beatrice Webb ist nicht dargestellt.

Stimmgewaltige und einflussreiche neue Mitglieder strömten zur Gesellschaft: die Theosophin Annie Besant und die Suffragettenführerin Emmeline Pankhurst, die Schriftsteller H. G. Wells, Leonard und Virginia Woolf und der Philosoph Bertrand Russell. Andere Mitglieder wie Sidney Webb selbst, Sydney Olivier und Ramsay Mac Donald machten Karriere in Staatsdienst und Politik, die für die beiden Erstgenannten mit Ministersesseln in den ersten Labour-Regierungen, für Mac Donald sogar als Regierungschef endete.

Die Gründung der Labour Party

Bald war die Zeit reif für Expansion. Eine Erbschaft versorgte die Fabians mit genügend Mitteln, ihr eigenes Forschungsinstitut zu gründen: Die „London School of Economics and Political Science“, die heute zu den britischen Elitehochschulen gehört. 1913 kam ein Presseorgan hinzu, der „New Statesman“, das bis heute wöchentlich erscheint. Lokale Fabian-Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Zeit war reif für politische Aktion.

Als 1900 die Labour Party als Sammlungsbewegung der englischen Linken gegründet wurde, standen die Fabians gemeinsam mit den Gewerkschaften und anderen Gruppen an ihrer Wiege. Zwar blieb Bernard Shaw zeitlebens kritisch gegenüber dem gewerkschaftsgetriebenen Sozialismus von Labour, doch die Webbs ergriffen die Gelegenheit, konkrete Politik zu machen. 1914 traten sie der Partei bei. Sidney Webb war der Kopf hinter dem Wahlprogramm der Labour Party im kritischen Jahr 1918. Sechs Jahre später war es soweit: Ramsay Mac Donald bildete die erste Labour-Regierung. Er selbst und fünf seiner Minister waren Fabians.

Lesetipps zum Thema

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Literaturtipps:

  • Michael Holroyd: Bernard Shaw. Magier der Vernunft, Frankfurt 1995.

  • Peter Wittig: Der englische Weg zum Sozialismus. Die Fabier und ihre Bedeutung für die Labour Party und die englische Politik, Berlin 1982.

  • Bernard Shaw (Hrsg.): Fabian essays in socialism, London 1889. (englisch)