1144: Erste Übersetzung des Koran

Im Hochmittelalter waren es Übersetzungen aus dem Arabischen, die dem Abendland antikes und neues Wissen erschlossen. Aber auch das Wissen über den Islam wurde durch Übersetzungen erweitert. 1144 entstand in Spanien die erste lateinische Übersetzung des Koran. Sie sollte vor allem dem Kampf gegen die islamische Lehre dienen.

Mittelalterliche Mönche arbeiten an einer neuen Handschrift. (Buchmalerei aus einem niederländischen Manuskript, ca. 1380)

Mittelalterliche Mönche arbeiten an einer neuen Handschrift. (Buchmalerei aus einem niederländischen Manuskript, ca. 1380)

Als 1099 der Erste Kreuzzug Jerusalem eroberte, wusste im christlichen Europa kaum jemand etwas die islamische Welt und ihre Religion. Kultureller und intellektueller Austausch zwischen Muslimen und Christen beschränkte sich fast ausschließlich auf die muslimischen Länder. Unter christlichen Gelehrten war nicht einmal klar, ob die „Sarazenen“ nun als Heiden oder Ketzer zu betrachten seien. Die „Lex saracenorum“ – die islamische Lehre – war bis auf wenige Stichpunkte selbst Interessierten nicht erschließbar.

Dies war um so seltsamer, als die lateinische Welt des Mittelalters blühende kulturelle Zentren des Islam direkt vor ihrer Haustür hatte. Spanien und Süditalien waren seit dem 8. bzw. 9. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft und Städte wie Palermo, Cordoba, Sevilla und Toledo waren Knotenpunkte der Gelehrsamkeit in der islamischen Welt. Doch kulturelle, sprachliche und politische Barrieren verhinderten den Austausch fast vollständig.

Petrus Venerabilis und die „Widerlegung des Islam“

Erst ab dem Ende des 11. Jahrhunderts sollte sich dies ändern. Zwei Bewegungen sollten entscheidend sein: Die Reconquista in Spanien und natürlich die Kreuzzüge. Plötzlich gab es viele Grenzgänger zwischen den Kulturen, und christliche Herrscher mussten sich zudem mit muslimischen Untertanen in eroberten Gebieten im Nahen Osten und auf der Iberischen Halbinsel arrangieren. Der Druck, ihren Glauben und ihre Kultur zu verstehen, wuchs – und sei es auch nur, um sie besser zum Christentum bekehren zu können.

Genau diese Absicht trieb Petrus Venerabilis (1092-1156) an, als er 1142 auf einer Reise durch Spanien eine Handvoll Übersetzer beauftragte, die wichtigsten Texte des Islam ins Lateinische zu übertragen. Petrus war Abt des mächtigen Klosters Cluny und einer der einflussreichsten Kirchenmänner seiner Zeit. Er sah die bei seinen Zeitgenossen beliebte kriegerische Lösung des „Problems Islam“ durchaus kritisch. Es sei nicht Gottes Wille, die Muslime einfach niederzumetzeln, schrieb er in einem Brief an den französischen König.

Stattdessen stünde es der Kirche gut an, sich zu erinnern, wie die Kirchenväter mit Irrlehren umgingen. Jeden falschen Glauben, so schreibt der Abt, habe die Kirche durch Argumente widerlegt. Nur dem Islam, der Petrus zufolge mehr als alle anderen Irrlehren „in Leib und Seele der Menschen unendlichen Schaden angerichtet“ habe, habe sie nichts entgegengesetzt.

Der lateinische Koran

Die Tatenlosigkeit der christlichen Gelehrten entrüstete den Abt Petrus. Er führte sie vor allem auf die Unkenntnis zurück, die im lateinischen Westen über den Islam herrschte. Dem Abendland mussten Informationen über diese größte aller Irrlehren verfügbar gemacht werden, damit berufene Gelehrte – Petrus dachte dabei vor allem an seinen beredten Zeitgenossen Bernhard von Clairvaux – sich dessen schlagkräftiger Widerlegung widmen könnten.

Mit der wichtigsten Übersetzung beauftragte Petrus Venerabilis den Engländer Robert von Ketton, der bereits seit einigen Jahren in Toledo arabische Texte studierte und übersetzte. Robert fertigte bis 1144 die erste komplette Übersetzung des Korans ins Lateinische an. Für gut fünf Jahrhunderte sollte sein Werk die einflussreichste Übersetzung des heiligen Buches des Islam bleiben und fundamentalen – und zum Teil fatalen – Einfluss auf die Islamwahrnehmung im Abendland haben.

Drahtseilakt zwischen Texttreue und Verständlichkeit

In seiner an seinen Auftraggeber gerichteten Vorrede zu seiner Koranübersetzung macht Robert deutlich: Er habe die aufwändige Aufgabe auf sich genommen, um seinen Beitrag zur Widerlegung des Islam zu leisten. Vom klaren Verständnis seiner Aufgabe zeugt dabei auch seine Beschreibung seiner Übersetzungsstrategie: „nichts auslassend, nichts verändernd, es sei denn zur besseren Verständlichkeit“.

Petrus Venerabilis selbst war um die Korrektheit gerade des lateinischen Korans höchst besorgt gewesen und gab Robert sogar einen muslimischen Berater zur Seite. Zudem ist deutlich, dass Robert auch ausführlichen Gebrauch von arabischen Koran-Kommentaren machte, um sich schwierige Stellen des Originaltextes zu erklären. Dies tat er in einem Umfang, der spätere Leser seiner Übersetzung immer wieder zu der Kritik veranlasste, er würde den Koran größtenteils lediglich paraphrasierend wiedergeben und den eigentlichen Sinn des Textes dabei nicht selten entstellen.

Moderne Forscher nehmen Robert gegen diesen Vorwurf in Schutz. Tatsächlich ist der Koran selbst für Eingeweihte ein oft schwer verständlicher und auslegungsbedürftiger Text. Die Forschung konnte nachweisen, dass viele von Roberts vermeintlichen Entstellungen, wenn sie auch vom Wortsinn abweichen, in Wirklichkeit direkt den muslimischen Korankommentaren entnommene Erläuterungen sind. Oft sind sie tatsächlich dem inhaltlichen Verständnis der betreffenden Stellen dienlicher als eine wörtliche Übertragung.

Übersetzungsfehler mit Folgen für Jahrhunderte

Doch nicht alle Eingriffe, die Robert vornahm, lassen sich auf diese Weise erklären. So löste er etwa die klassische Einteilung der Koran-Suren auf: Während die eigentlich erste Sure als Eingangsgebet dem Werk vorangestellt wird, unterteilte Robert die langen Suren zwei bis sechs jeweils in kleinere Unterkapitel. So hat sein Koran am Ende statt der üblichen 114 Suren eine Gesamtzahl von 123 Kapiteln und wird von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren gewöhnlich so zitiert.

Neben derartigen bewussten formalen Eingriffen schlichen sich aber auch inhaltliche Fehler und Missverständnisse ein. Sie sollten für die Brauchbarkeit der Übersetzung schwerwiegende Folgen haben.

Ein Beispiel als Illustration: So unterlief Robert bei der Interpretation einer Koranstelle (3.45) ein verhängnisvoller Lesefehler, der wohl auf falsche Vokalisierung des arabischen Textes zurückzuführen ist. Wo es in einer modernen Übersetzung heißt, Christus werde „angesehen sein im Diesseits und Jenseits“, übersetzt Robert: „Christus Iesus filius Mariae, qui est facies omnium gentium“. Diese Fehlübersetzung machte den koranischen Christus zum „Antlitz der Völker“, was etwa einen großen Philosophen wie Nikolaus Cusanus (1401-64) auf beträchtliche Irrwege bei seiner Koraninterpretation führte.

Unter der Oberfläche: Polemik

Fast noch stärker als diese Übersetzungsfehler sollte sich Roberts offensichtliche Neigung zu tendenziösen Übertreibungen auf das westliche Islambild auswirken. „Ketton war stets bereit, einen harmlosen Text so zu übertreiben, dass er einen hässlichen oder lasterhaften Klang erhielt, “, bemerkt ein moderner Forscher kritisch. Jahrhunderte von empörten Aufschreien über die Obszönitäten des Koran entzündeten sich an dieser Praxis Roberts.

Diese Koranübersetzung entstand als Teil eines Projekts zur Bekämpfung der muslimischen Lehre, und Robert von Ketton wollte diesem Zwecke zuarbeiten. In der Wortwahl und Gewichtung war sein Werk dafür in der Tat hervorragend geeignet.

Dominikanische Bettelmönche predigen Muslimen das Christentum. (Buchmalerei aus einem französischen Manuskript, ca. 1410)

Dominikanische Bettelmönche predigen Muslimen das Christentum. (Buchmalerei aus einem französischen Manuskript, ca. 1410)

Doch trotz dieser missgünstigen Tendenzen steht fest: Der Inhalt wichtiger theologischer Grundpositionen des Islam wurde von der Übersetzung Roberts gewöhnlich korrekt wiedergegeben. Bei nüchterner Lektüre konnte ein Leser durchaus einen klaren Eindruck über die muslimische Lehre gewinnen.

Eine Autorität bis ins 17. Jahrhundert

Robert von Kettons Koranübersetzung erreichte zunächst keine große Verbreitung. Petrus Venerabilis ließ sie zusammen mit anderen Schriften über den Islam in einen Band zusammenfassen: die „Collectio Toletana“, die „Sammlung von Toledo“. Das Projekt war jedoch unter Zeitgenossen umstritten. Erst als mit dem Aufkommen der Bettelmönche und ihrem neuen missionarischen Eifer wuchs ab der Mitte des 13. Jahrhunderts ein ernsthaftes Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Islam.

Ab diesem Zeitpunkt wurde das Buch vielfach abgeschrieben und war im späten Mittelalter und der Renaissance gut verfügbar für alle Interessierten. Und nicht nur das: Es war vielfach die wichtigste und meist sogar die einzige Quelle westlicher Gelehrter über den Islam. Die polemischen Schriften von Thomas von Aquin und Roger Bacon zeigten sich ebenso abhängig davon wie Nikolaus Cusanus und Enea Silvio Piccolomini und auch noch Martin Luther.

Letzterer schrieb bereits seit den 1520 Jahren gegen den Islam an und förderte schließlich die erste gedruckte Ausgabe der „Collectio Toletana“, die Theodor Bibliander 1543 herausgab. Luther steuerte gar ein energisches Vorwort bei. In dieser gedruckten Ausgabe erlangte Robert von Kettons lateinischer Koran endgültig eine riesige Verbreitung und fast unangefochtene Autorität für ein weiteres Jahrhundert. Er – nicht der arabische Originaltext – bildete die Grundlage zahlreicher weiterer Übersetzungen etwa ins Deutsche, Holländische und Italienische. Erst Ende des 17. Jahrhunderts wurde Kettons Koran durch die neuen Übertragungen von André du Ryer (1647 ins Französische) Lodovico Marracci (1698 ins Lateinische) verdrängt.

Lesetipps zum Thema

Webtipps:

Literaturtipps:

  • Reinhold F. Glei (Hrsg.): Frühe Koranübersetzungen. Europäische und außereuropäische Fallstudien, Trier 2012.

  • Thomas E. Burman: Reading the Qur’an in Latin Christendom 1140-1560, Philadelphia 2009.

  • John V. Tolan: Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002.